Was bleibt

Jeder Mensch hat seine Geschichte. Und sie ist nicht nur die Summe der Erlebnisse und Erfahrungen seines Lebens. Sie ist das Band, das sein Leben umfasst und zusammenhält, dem Leben Sinn verleiht und unverwechselbar ist. Sie ist so etwas wie der rote Faden oder die goldene Schnur.

Immer habe ich in meinem Leben nach meiner Geschichte gesucht. Manchmal hatte ich sie verloren. Dann machte mein Leben keinen Sinn, ich verlor mich – in depressiven Gedanken, in Selbstvorwürfen oder in der Geschichte, die andere für mich erzählten. Dann wieder hatte ich das Gefühl, meine Geschichte wiedergefunden zu haben. Ich war bei mir selber, war innerlich stark und überzeugt davon, dass mein Handeln und Denken richtig war. Und dann wiederum stimmten meine Erfahrungen nicht mehr mit dieser Geschichte überein – und ich machte mich erneut auf die Suche.

Manchmal suche ich auch nach der Geschichte von anderen Menschen. Zum Beispiel in Beerdigungsgesprächen. Meistens haben mir die Angehörigen erst einmal ein positives, ein vorzeigbares Bild von dem oder der Verstorbenen gemalt. Manchmal, eher selten haben sie sie oder ihn auch als eine Person beschrieben, unter der sie sehr gelitten haben. In jedem Fall aber habe ich das Gespräch weiter geführt. Denn niemand ist nur gut oder nur böse. Und selbst in einem Leben, das auch beim zweiten Hinsehen als verkorkst zu bezeichnen wäre, gibt es eine Geschichte: ein Leben, wie es Gott gemeint hat. Ein Leben, wie es sich der Mensch gewünscht hat – und es, aus welchen Gründen auch immer, nicht führen konnte.

Und diese Geschichte zu entdecken war mein Ziel. Denn sie erst gibt dem Menschen seine Würde – nicht seine Erfolge oder Misserfolge, nicht sein Geld oder seine Armut, nicht sein sozialer Status, die Familie oder der Beruf. Manchmal erzählten mir die Angehörigen eine Episode aus seinem Leben, die exemplarisch für ihn war. Dann habe ich sie gerne in die Ansprache mit aufgenommen.

Natürlich hatte ich nie den Anspruch, die Geschichte eines Menschen wirklich gefunden zu haben. Denn im Letzten bleibt er immer ein Geheimnis. Als Christ bin ich der Überzeugung, dass nur Gott uns wirklich kennt – und dass es deshalb für uns gut ist, wenn wir den Willen Gottes für unser Leben kennen. Denn wenn wir ihm folgen, kommen wir zu uns.

9783579047218 - Steiger, Lothar: Erzählter Glaube - Die Evangelien - BuchLothar Steiger hat in seinem Buch „Erzählter Glaube“ geschrieben: „Glaube ist Suche nach einer verlorenen Geschichte.“ Und er findet sie in den Erzählungen der Evangelien von Leben, Tod und Auferstehung Jesu. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass wir die Bibel verstehen, sondern dass wir uns verstehen, auf ihrem Hintergrund. In den Erzählungen von Jesus können wir unser eigenes Leben wiederfinden und verstehen, immer wieder neu. Am Ende schreibt Steiger: „Wer davon reden wollte, um alles zu erzählen, der hätte viel zu lesen in Gottes altem Bilderbuch.“ Und er zitiert darüber hinaus aus dem Johannesevangelium (21, 25): „Die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“ Das Ziel aber ist, dass Gott mit Hilfe seines Sohnes Jesus die Menschen überredet, „Gottes Kinder zu werden (Joh. 1,12)“. Ich würde sagen: Meine Geschichte und Gottes Geschichte mit mir zur Deckung zu bringen.

 

2 Gedanken zu “Was bleibt

  1. Ralf Liedtke schreibt:

    Lieber Erik,

    Du bist auf „Spurensuche“ gegangen und hast uns in vielen spannenden Episoden Deine „Geschichte“ erzählt. Es war sicher auch eine Suche nach Dir selbst, nach den roten Fäden in Deinem Leben, den Triebkräften, Prägungen, Deinen Erfahrungen oder Einsichten und vielem mehr. Jetzt hältst Du noch einmal inne und betrachtest das „Werk“ aus der „Vogelperspektive“ und ziehst ein kleines Resüme. Ich spüre, es hat Dir gut getan.

    Für mich als Leser war das spannend! Danke dafür!

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