* Ein frommer Luther

Gestern waren wir im Luther-Oratorium in der Arena, die zurzeit nach einer Kreditkarte benannt ist. Es war in jedem Fall lohnend. Allerdings sind wir doch mit gemischten Gefühlen nach Hause gegangen.

Kurz gesagt: Musikalisch war es für uns sehr attraktiv, theologisch fragwürdig und politisch erschreckend. Aber der Reihe nach.

Der Chor war der Star des Abends. 1440 Sängerinnen und Sänger waren beeindruckend und sorgten für eine besondere Stimmung. Über weite Strecken hat mich auch die Performance von Doris Vetter, die mit Micha Keding den Chor dirigiert hat, in den Bann gezogen. Die Musik war Pop und eingängig und sehr intensiv. Gudrun Fliegner hat auf ReJOYce eine prima fünfteilige Einführung in das Oratorium gegeben. Und dass es für die Sängerinnen und Sänger ein großes Erlebnis war, steht dort auch.

„Die Idee ist es, die Grundanliegen der Reformation in einer zeitgemäßen, unterhaltsamen Form anhand der Person Martin Luthers für eine breite Öffentlichkeit zu erzählen“, schreibt Dieter Falk, der die Musik komponierte. Das wurde durch die Regie, die zeitgenössischen Kostüme und das sparsame Bühnenbild stimmig umgesetzt. Und die Lichteffekte fanden wir einfach eindrucksvoll.

Und auch den Text konnte man gut auf unsere Wirklichkeit übertragen. Aber welche Wirklichkeit war das? Es war – und nun wird es persönlich, weil ich mich an meine Jugend erinnere – ein evangelikales Weltbild: Der Mensch ist Sünder, aber Gott hat ihn trotzdem lieb. Er ist nun Gottes Kind und frei. Und die Freiheit besteht darin zu tun, was Gott will. Und was Gott will, steht in der Bibel. Das kann man so sehen, aber ich habe mit diesem Weltbild meine Schwierigkeiten. Dass der Mensch Sünder sei, hat für mich nicht dieselbe Bedeutung wie für den – im mittelalterlichen Denken verwurzelten – Luther und die heutigen Evangelikalen. Die Liebe Gottes sehe ich auch von verschiedenen Seiten (siehe den Blogbeitrag „Den lieben Gott gibt es nicht“). Meine Freiheit des Denkens hatte ich erst erreicht, als ich mich von den evangelikalen Vorgaben befreit habe. Und da die Bibel unterschiedlich, ja gegensätzlich interpretiert werden kann, finde ich es schwierig, darin den – vielleicht sogar eindeutigen – Willen Gottes zu finden. Aber historisch-kritische Aspekte spielen in der evangelikalen Theologie auch keine große Rolle. Deshalb kann auch nach Paulus‘ Auftritt und der Übergabe seines Römerbriefs der Chor mit den ersten Versen des Johannesevangeliums antworten – ist doch alles Gottes Wort, oder?

Richtig ärgerlich aber wird es, wenn es gesellschaftspolitisch wird. Staat und (katholische) Kirche werden als ausschließlich macht- und geldgierig dargestellt. Die Darstellung des Wormser Reichstags als sittenlose Veranstaltung ist offenbar den Berichten über das Konstanzer Konzil (1414-18) entnommen. Und die tiefe Frömmigkeit Kaiser Karls V., der intensiv um die Einheit von Reich und Kirche rang, wird gleich ganz unterschlagen. Kleinere Ungenauigkeiten (er sprach spanisch, nicht französisch) fallen da kaum noch ins Gewicht.

Hier der gute Luther, der auf der Seite der Geknechteten und Ausgestoßenen für die Freiheit des Denkens kämpft, dort die verkommenen Eliten in Staat und Kirche – dieses Bild könnte direkt aus dem Arsenal der AfD und diverser Verschwörungstheoretiker stammen. Meine Wirklichkeit sieht definitiv anders aus.

Insgesamt also ein gelungener Abend, der noch manchen Stoff für Auseinandersetzungen liefern könnte. Oder was meint ihr?

9 Gedanken zu “* Ein frommer Luther

  1. Thomas schreibt:

    Lieber Erik,

    das hört sich ja schaurig an … Da freue ich mich doch von Herzen und bin dem Gott der Liebe soooooooo dankbar, dass sein guter Geist mich dazu bewegte, parallel zu der Luther-Veranstaltung mit den Meinen gleich gegenüber zum Bundesligaspiel HSV : Freiburg zu gehen … 🙂

    Einen lieben Gruß Euch allen !

    Thomas

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Lieber Thomas,
      schaurig war es auf gar keinen Fall. Ich habe es sogar sehr genossen. Schaurig fand ich eher den verschossenen Elfer in der 88. Minute. War es vielleicht doch nicht der Gott der Liebe, sondern der unberechenbare Fußballgott, der Dich ins Stadion geführt hat :)? Ich denke aber, dass sich solche Fragen eher bei einem Bier als in einem Blog klären lassen 😉
      Dir und Euch auch alles Liebe
      Erik

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  2. Thomas schreibt:

    Lieber Erik, der HSV ist wie das Leben selbst : dynamisch und unberechenbar ! Und stärkt zudem auf offensichtliche Art und Weise die persönliche Frustrationstoleranz … Als jahrelanger HSV-Fan und Dauerkarteninhaber haut mich und meine Kinderschar so gut wie gar nichts mehr um …

    Aber ganz im Ernst : Ich bin im weisen Alter etwas sehr vorsichtig geworden, wenn religiöse Gruppen sich mit Super-Events präsentieren : tolle, mitreissende Musik, ausgeklügelte Performance, eine perfekte emotionale Wellness-Atmosphäre … Und dann das kalte Erwachen, wenn man der Message auf den Grund geht ! Manipulation auf höchstem Niveau !
    Das alles passt aber auch wirklich perfekt ins post-faktische Zeitalter ! Die haben viel vom Stage-Entertainment gelernt … Dann schon lieber ein liebevoll ausgearbeiteter Gottesdienst im traditionellen Gewand !

    Ich freue mich, wenn es heute Nachmittag klappen sollte !

    Bis dann !

    Thomas

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      „Dann schon lieber ein liebevoll ausgearbeiteter Gottesdienst im traditionellen Gewand !“
      … mit Kreuz oder Raute? 😉

      Nun, mich irritieren nicht so sehr die „alternativen Fakten“, sondern diejenigen, bei denen die Realität wie die Maßstäbe verschwimmen.

      Übrigens steht in der neuen „Evangelischen Zeitung“ ein Artikel mit einer vergleichbaren Meinung. Sobald er im Netz erscheint, werde ich darauf verlinken.

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  3. Ute Klingwort-Finster schreibt:

    Da hat uns unser Instinkt doch nicht getrogen. Einerseits fand ich die Idee eines großen Luther-Spektakels toll und angebracht 500 Jahre „danach“, auf der anderen Seite hatte ich schon so etwas befürchtet: eine Show, in der Luther zum Superstar und alles Katholische zum bösen Feind wird. Plakativ und undifferenziert.
    Wir hoffen auf einen diskussionsfreudigen Kirchentag, auf dem verschiedene Facetten beleuchtet werden, wie man es ja von den Kirchentagen kennt.
    Allerdings möchte ich nicht immer wieder von Luthers schaurigen Texten über die Juden hören. Sie sind schon lange bekannt und die Kirche muss sich nicht dauernd dafür entschuldigen.
    Der Antijudaismus zieht sich leider durch die ganze Geschichte des Christentums und beginnt bereits im Neuen Testament.
    Martin Luther war ein Kind seiner Zeit. Weder ein Held noch ein Heiliger. Aber ein sprachbegabter, kluger Theologe, der den christlichen Glauben bereichert hat.

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  4. Ralf Liedtke schreibt:

    Ja, aber bislang nicht beteiligt. Aber schon im Vorfeld der „chorischen Aufführung“ nicht restlos überzeugt, habe ich das geschilderte Szenarium nicht selbst erlebt.

    Was wir brauchen ist wahrlich kein „Superstar“ Jesus. Die Frage für mich wäre dann aber auch: Wo bleibt Gott und was verstehen wir, zur Schöpfung? Was mir zunehmend fehlt, ist eine zeitgemäße offene Auseinandersetzung mit elementaren Fragen des Glaubens im Rahmen der Kirche, der ich nach langer Abstinenz wieder beigetreten bin. Ich erlebe viele Menschen in meinem Umfeld, denen letzlich gerade auch hier keine wirkliche Hilfe geboten wird.

    Glaube und Kirche waren immer hochpolisch. Die Kirche oder andere Glaubensreligionen stellten und förderten den institutionellen Rahmen, um den jeweiligen auch gewünschten Glauben zu „befördern“ – zu ihrem originären Interesse.

    Auch für unsere traditionellen Kirchen, Katholiken wie Protestanten eingeschlossen, gilt dieses uneingeschränkt. Die legendären Kreuzfahrer, frühe Abspaltungen von der kathlischen Kirche, der Bauernkrieg um Thomas Müntzer und die Rolle der Kirchen, Und welche Rolle spielten Protestanten und Katholiken im Dritten Reich, dem deutschen Fachismus! Und warum?

    Ja, Luther war eine Persönlichkeit zur damalilgen Zeit. Und hat vieles Positves befördert, Darüber würde es Sinn machen zu berichten, weil es einerseits positiv auf die Gesellschaften ausstrahlte, aber auch nur eingeschränlkte Wirkungen auf das Feudalsystem austrahte.

    Er war aber auch Kind der Zeit, befangen zum einen, inspirierend zum anderen und begenzt von seiner realen Möglichkeiten, Und ein Transfer zu heute wäre/ ist ein spannenderas Unternehmen gewesen,

    Schade, Chance bisher verschenkt.

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  5. Ute Klingwort-Finster schreibt:

    Es gibt eine Vielzahl an neu erschienenen Büchern zum 500. Jubiläum der Reformation. Ich vermute, dass einige genau den Versuch unternehmen, Bezüge zwischen Luthers Leistung und unserer Zeit herzustellen. In der „Spiegel“-Serie über Luther (die am 31. Oktober 2016 begann und fünf Ausgaben umfasste) wurde dies auch versucht. Der Aufmacher des ersten Teils heißt: „Luther – der erste Wutbürger“. In einem anderen Teil wurde die Vermutung geäußert, dass Luther die digitalen Medien eifrig genutzt hätte, wenn er heute lebte. Wenn man diesen Gedanken weiterführt, kann man Martin Luther für einen allem Neuen aufgeschlossenen Menschen halten, der nicht die Gefahren der Digitalisierung betont hätte, sondern deren Chancen für die Kirche (und für die Verbreitung seiner eigenen Theologie). Also für einen Optimisten, der mit Neugier statt mit Angst auf das Kommende blickt. Inspirierend für uns?

    Und vorige Woche lief im ersten Programm zur besten Sendezeit der Spielfilm „Katharina Luther“. Auch ein Versuch, heutigen Menschen die Lutherzeit näherzubringen. Gar nicht schlecht gelungen, finde ich.Tatsächlich war die ehemalige Nonne Katharina von Bora ja eine gebildete, eigenständige, geschäftstüchtige Frau, die – im Rahmen der damaligen Verhältnisse – ihrem berühmten Ehemann durchaus das Wasser reichen konnte. Katharina Luther: die erste emanzipierte Frau? Dies war kein Aufmacher im „Spiegel“ und er wäre auch nicht angebracht, denn SO modern war die Lutherin nun auch wieder nicht.

    Immer wenn man Luther in unsere Tage hinüberretten will, stößt man auf den „garstigen Graben der Geschichte“, den Lessing angesichts der Texte des Neuen Testaments erkannt hat. Dieser Graben tut sich auch auf, wenn man „nur“ 500 Jahre zurückblickt. Möglicherweise ist dies das größte Problem bei gut gemeinten und wünschenswerten Bemühungen um eine Aktualisierung von Bruder Martin.

    Ich nehme an, dass Herr Thiesen das eine oder andere der neuen Luther-Bücher bereits kennt. Und?

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Tatsächlich habe ich in den letzten Jahren eher über Luther-Bücher gelesen als die Originale. Mein Eindruck: Die Fakten sind eigentlich soweit bekannt. Jetzt geht es um die Bewertung. Und die ist meistens interessegeleitet. Der „Spiegel“ will ein paar Seitenhiebe auf die Religion loswerden, die evangelische Kirche ihre Toleranz und Fähigkeit zur Selbstkritik beweisen und die Oratoriumsinitiatoren ein Heldenepos auf die Bühne bringen. Ich gestehe, dass ich beim Thema Reformationsjubiläum noch nicht Feuer gefangen habe.
      Ich bewundere an Luther seine kraftvolle und pralle Art zu leben. Was mich von ihm trennt, ist seine panische Angst vor einem strafenden Gott.

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